AM SCHANDPFAHL

Roran saß kerzengerade da und starrte an Nasuada vorbei, den Blick auf eine Falte in der karmesinroten Zeltwand gerichtet.
Er spürte, wie Nasuada ihn musterte, aber er weigerte sich, sie anzusehen. Während des langen, dumpfen Schweigens, das sie einhüllte, malte er sich eine Fülle schrecklicher Strafen aus, und seine Schläfen pochten mit fiebriger Intensität. Er wünschte, er könnte das stickige Zelt verlassen und draußen die kühle Luft atmen.
»Was soll ich mit dir machen, Roran?«
Er drückte das Rückgrat noch stärker durch. »Was immer Ihr wünscht, Herrin.«
»Eine bewundernswerte Antwort, Hammerfaust, die allerdings nicht das Dilemma löst, in dem ich mich befinde.« Nasuada nahm einen Schluck aus ihrem Weinkelch. »Du hast dich zweimal einer direkten Anweisung von Hauptmann Edric widersetzt. Hättest du sie allerdings befolgt, könnten weder er noch du oder der Rest eures Trupps uns davon berichten, denn ihr wärt alle nicht mehr am Leben. Nach deiner eigenen Aussage hast du wissentlich Befehlsverweigerung begangen, und ich muss dich dafür bestrafen, wenn ich die Disziplin in meiner Armee aufrechterhalten will.«
»Ja, Herrin.«
Ihre Miene verdüsterte sich. »Verdammt, Hammerfaust. Wenn du nicht Eragons Cousin wärst und dein Schachzug etwas weniger erfolgreich gewesen wäre, dann würde ich dich für dein Fehlverhalten aufknüpfen und hängen lassen.«
Roran schluckte, als er sich vorstellte, wie sich die Schlinge langsam um seinen Hals zusammenzog.
Mit dem Mittelfinger der rechten Hand klopfte Nasuada immer schneller auf die Armlehne ihres hochlehnigen Stuhls, bis sie innehielt und fragte: »Möchtest du weiterhin für die Varden kämpfen, Roran?«
»Ja, Herrin«, sagte er, ohne zu zögern.
»Was würdest du auf dich nehmen, um in meiner Armee zu bleiben?«
Roran gestattete es sich nicht, darüber nachzugrübeln, was diese Frage einschloss. »Was immer es bedarf, Herrin.«
Die Anspannung auf ihrem Gesicht ließ nach und Nasuada nickte, offenbar zufrieden. »Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest. Die Tradition und vorangegangene ähnliche Fälle lassen mir nur drei Möglichkeiten: Erstens, ich kann dich an den Galgen bringen, aber das tue ich nicht... aus vielerlei Gründen. Zweitens, ich verurteile dich zu dreißig Peitschenhieben und entlasse dich danach aus den Reihen der Varden. Oder drittens, ich gebe dir fünfzig Peitschenhiebe und behalte dich unter meinem Kommando.«
Fünfzig Peitschenhiebe sind nicht viel mehr als dreißig, versuchte Roran, sich Mut zu machen. Er befeuchtete die Lippen. »Würde man mich vor den Augen aller auspeitschen?«
Nasuadas Brauen hoben sich. »Dein Stolz hat hier nichts zu suchen, Hammerfaust. Deine Strafe muss hart sein, damit sie andere davon abhält, dir nachzueifern, und sie muss in der Öffentlichkeit stattfinden, damit es für alle Varden von Nutzen ist. Wenn du auch nur halb so intelligent bist, wie es scheint, dann wusstest du, dass deine Befehlsverweigerung unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen würde. Die Wahl, vor der du jetzt stehst, ist einfach: Willst du bei den Varden bleiben oder willst du deine Familie und Freunde verlassen und deinen eigenen Weg gehen?«
Roran hob das Kinn, wütend, weil sie sein Wort infrage stellte. »Ich werde Euch nicht verlassen, Herrin. Ganz gleich, wie viele Hiebe Ihr mir gebt, sie können nicht so sehr brennen wie der Schmerz darüber, meine Heimat und meinen Vater verloren zu haben.«
»Das stimmt«, sagte Nasuada sanft. »Das können sie nicht... Ein Magier der Du Vrangr Gata wird die Auspeitschung überwachen und sich anschließend um dich kümmern, damit du keine bleibenden Schäden davonträgst. Allerdings wird man deine Wunden nicht vollständig heilen, und du darfst auch nicht aus eigenen Stücken einen Magier aufsuchen, um deinen Rücken behandeln zu lassen.«
»Ich verstehe.«
»Die Bestrafung wird vollzogen, sobald Jörmundur die Truppen aufmarschieren lassen kann. Bis dahin bleibst du in dem bewachten Zelt neben dem Schandpfahl.«
Roran war froh, dass er nicht länger warten musste. Er wollte die Last dessen, was vor ihm lag, nicht tagelang auf seinen Schultern tragen. »Herrin«, sagte er und sie entließ ihn mit einer knappen Handbewegung.
Roran machte auf dem Absatz kehrt und marschierte aus dem Pavillon. Draußen nahmen ihn zwei Wachen in Empfang und führten ihn wortlos durchs Lager, bis sie ein kleines, leeres Zelt in der Nähe des geschwärzten Schandpfahls erreichten, der auf einer Anhöhe am Lagerrand stand.
Der Pfahl war sechseinhalb Fuß hoch und hatte nahe der Spitze einen Querbalken, an den die Handgelenke der Gefangenen gefesselt wurden. Der Balken war übersät mit Kratzern von den Fingernägeln der gegeißelten Männer.
Roran zwang sich, den Blick abzuwenden, und trat in das Zelt. Das einzige Möbelstück im Innern war ein abgewetzter Holzschemel. Er setzte sich und konzentrierte sich auf seinen Atem, fest entschlossen, ruhig zu bleiben.
Nach ein paar Minuten begann Roran, das Stampfen der Stiefel und Klirren der Kettenhemden zu hören, als die Varden sich um den Pranger versammelten. Roran stellte sich vor, wie ihn Tausende Männer und Frauen anstarrten, einschließlich der Dorfbewohner aus Carvahall. Sein Pulsschlag beschleunigte sich, Schweiß trat ihm auf die Stirn.
Nach einer halben Stunde trat die Zauberin Trianna ins Zelt. Roran musste sich bis auf die Hosen ausziehen, was ihn verlegen machte, aber die Frau schien das nicht zu bemerken. Trianna untersuchte ihn und legte sogar einen zusätzlichen Heilzauber auf die linke Schulter, wo der Soldat ihn mit dem Armbrustbolzen getroffen hatte. Dann erklärte sie ihn für gesund und gab ihm ein Hemd aus Sackleinen, das er anstelle seines eigenen tragen sollte.
Roran zog sich gerade das Hemd über den Kopf, als Katrina sich ins Zelt schob. Als er sie erblickte, erfüllten Roran gleichermaßen Freude und Furcht.
Katrina blickte zwischen ihm und Trianna hin und her, dann machte sie vor der Zauberin einen Knicks. »Dürfte ich bitte allein mit meinem Gemahl sprechen?«
»Natürlich. Ich werde draußen warten.«
Sobald Trianna gegangen war, eilte Katrina zu Roran und fiel ihm um den Hals. Er drückte sie fest an sich, denn er hatte sie seit seiner Rückkehr ins Lager noch nicht gesehen.
»Ich habe dich so vermisst«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
»Ich dich auch«, murmelte er.
Sie lösten sich gerade weit genug voneinander, um sich anschauen zu können. Katrinas Blick verfinsterte sich. »Dir geschieht Unrecht! Ich bin zu Nasuada gegangen und habe sie angefleht, dich zu begnadigen oder zumindest die Zahl der Peitschenhiebe zu verringern, aber sie wollte mich nicht erhören.«
Roran strich Katrina über den Rücken. »Ich wünschte, du hättest es nicht getan.«
»Warum nicht?«
»Weil ich ihr gesagt habe, dass ich bei den Varden bleiben will, und ich stehe zu meinem Wort.«
»Aber dir geschieht Unrecht!«, sagte Katrina wieder und packte ihn an den Schultern. »Carn hat mir erzählt, was du getan hast, Roran. Du hast beinahe zweihundert Soldaten alleine niedergestreckt und ohne deinen Heldenmut hätte keiner der Männer in deinem Trupp überlebt. Nasuada hätte dich mit Lob und Geschenken überhäufen sollen, statt dich auspeitschen zu lassen wie einen gewöhnlichen Verbrecher!«
»Es spielt keine Rolle, ob es unrecht ist oder nicht«, sagte er. »Es muss sein. An Nasuadas Stelle hätte ich genauso gehandelt.«
Katrina schauderte. »Aber fünfzig Peitschenhiebe... Warum so viele? Es gibt Männer, die dabei gestorben sind.«
»Nur wenn sie ein schwaches Herz hatten. Sorge dich nicht. Es braucht schon mehr, um mich zu töten.«
Ein gezwungenes Lächeln huschte über Katrinas Lippen, dann begann sie zu schluchzen und presste das Gesicht an seine Brust. Er nahm sie in die Arme, strich ihr übers Haar und versuchte nach Kräften, sie zu beruhigen, obwohl es ihm nicht besser ging als ihr. Nach einigen Minuten ertönte draußen ein Horn, und Roran wusste, dass es Zeit für sie war, sich voneinander zu verabschieden. Er befreite sich sanft aus ihrer Umarmung und sagte: »Es gibt etwas, was du für mich tun kannst.«
»Was denn?«
»Geh in unser Zelt und bleib dort, bis meine Bestrafung vorüber ist.«
Die Bitte schien Katrina zu empören. »Nein, ich werde dich nicht allein lassen... nicht jetzt.«
»Bitte«, sagte er. »Du solltest das nicht mit ansehen müssen.«
»Und du solltest es nicht erleiden müssen«, gab sie zurück.
»Lass das. Ich weiß, dass du bei mir bleiben willst, aber ich kann es besser ertragen, wenn ich weiß, dass du nicht zuschaust... Ich habe es mir selbst eingebrockt, Katrina, und möchte nicht, dass du auch noch leiden musst.«
Ihre Miene wirkte angestrengt. »Zu wissen, was dir widerfährt, schmerzt mich so oder so, ganz gleich, wo ich bin. Aber … ich werde deinen Wunsch erfüllen, weil es dir hilft, diese Prüfung durchzustehen... Du weißt, dass ich mich an deiner statt auspeitschen lassen würde, wenn ich könnte.«
»Und du weißt«, sagte er und küsste sie auf beide Wangen, »dass ich das niemals zulassen würde.«
Tränen traten ihr in die Augen, und sie drückte ihn so fest an sich, dass er kaum mehr Luft bekam.
Sie lagen sich immer noch in den Armen, als die Zeltplane zurückgeschlagen wurde und Jörmundur und zwei Nachtfalken hereinkamen. Katrina trat von Roran zurück, machte einen Knicks vor Jörmundur und verließ das Zelt.
»Es ist so weit«, sagte der Befehlshaber der Varden.
Roran nickte und ließ sich von Jörmundur und den Wachen zum Schandpfahl führen. Um den Pfahl standen stumm und erwartungsvoll in dichten Reihen Männer, Frauen, Zwerge und Urgals. Nach einem anfänglichen Blick auf das Heer von Zuschauern starrte Roran zum Horizont und versuchte, die Menge zu ignorieren.
Die beiden Wachen hoben Rorans Arme über den Kopf und fesselten seine Handgelenke an den Querbalken des Schandpfahls. Unterdessen ging Jörmundur um den Pfosten herum und zog ein lederumwickeltes Holzstück aus der Tasche. »Hier, beiß da drauf«, sagte er mit leiser Stimme zu Roran. »Es verhindert, dass du dich selbst verletzt.« Dankbar öffnete Roran den Mund und ließ sich von Jörmundur das Beißholz zwischen die Zähne schieben. Das gegerbte Leder schmeckte bitter wie grüne Eicheln.
Dann ertönte ein Hornsignal, begleitet von einem Trommelwirbel. Jörmundur verlas die Anklage gegen Roran und die Wachen schnitten das Sackleinenhemd auf.
Er schauderte, als ihm die kühle Luft über den nackten Oberkörper strich.
Kurz vor dem ersten Hieb hörte Roran die Peitsche zischend durch die Luft schnellen.
Es war, als hätte man ihm eine glühende Metallstange auf den Leib gepresst. Roran krümmte den Rücken und biss auf das Holzstück. Ein unbeabsichtigtes Stöhnen entrang sich seiner Kehle. Doch da das Holz das Geräusch dämpfte, glaubte er nicht, dass es jemand gehört hatte.
»Eins«, sagte der Mann, der die Peitsche schwang.
Der Schock des zweiten Hiebs ließ Roran abermals aufstöhnen, danach gab er jedoch keinen Laut mehr von sich, denn er wollte vor den Varden nicht wie ein Schwächling erscheinen.
Die Peitsche hinterließ blutige Striemen, so schmerzhaft wie die schweren Verletzungen, die Roran in den letzten Monaten erlitten hatte. Aber nach einem Dutzend Hieben hörte er auf zu kämpfen und ergab sich der Pein, die ihn in einen trüben Trancezustand versetzte. Sein Blickfeld verengte sich, bis er nur noch das verblichene Holz vor sich sah, und immer wieder wurde ihm schwarz vor Augen, bevor er für kurze Momente das Bewusstsein verlor.
Nach einer Ewigkeit, wie es schien, hörte er aus weiter Ferne eine undeutliche Stimme sagen: »Dreißig«, und blanke Verzweiflung ergriff ihn, als er sich fragte, wie in aller Welt er noch zwanzig Peitschenhiebe aushalten sollte. Dann dachte er an Katrina und ihr ungeborenes Kind und der Gedanke gab ihm neue Kraft.
 
Als Roran zu sich kam, lag er in dem Zelt, das er und Katrina teilten. Katrina kniete neben seinem Lager, strich ihm übers Haar und murmelte ihm etwas ins Ohr, während ihm jemand eine kalte, klebrige Substanz auf die Striemen am Rücken schmierte. Er zuckte zusammen und verkrampfte sich, als die Hände eine besonders empfindliche Stelle berührten.
»So würde ich niemals einen Patienten behandeln«, hörte er Trianna in überheblichem Tonfall sagen.
»Wenn du alle deine Patienten so behandelst wie Roran«, erwiderte eine zweite Frauenstimme, »überrascht es mich, dass auch nur einer von ihnen überlebt hat.« Nach einem Moment erkannte Roran die Stimme der merkwürdigen Kräuterhexe Angela mit den funkelnden Augen.
»Wie bitte?«, rief Trianna aus. »Ich lasse mich doch nicht von einer dahergelaufenen Wahrsagerin beleidigen, die Schwierigkeiten hat, selbst den simpelsten Zauber zu wirken.«
»Dann geh doch. Ansonsten werde ich so lange fortfahren, dich zu beleidigen, bis du zugibst, dass der Rückenmuskel hier endet und nicht da.« Roran spürte, wie ihn ein Finger an zwei unterschiedlichen Stellen, nicht weit voneinander entfernt, berührte.
»Eine Frechheit!«, schimpfte Trianna und stürmte aus dem Zelt. Katrina lächelte Roran an, und da bemerkte er, dass ihr Gesicht tränenüberströmt war. »Roran, verstehst du mich?«, fragte sie. »Bist du wach?«
»Ich... ich denke, ja«, sagte er mit heiserer Stimme. Die Kiefermuskeln taten ihm weh, weil er so lange mit aller Kraft auf das Holzstück gebissen hatte. Er hustete, dann verzog er das Gesicht, als alle fünfzig Striemen auf seinem Rücken gleichzeitig zu pochen begannen.
»So, das war’s«, sagte Angela. »Ich bin fertig.«
»Vielen Dank. Ich hätte nicht erwartet, dass du und Trianna, dass ihr so viel für ihn tut«, sagte Katrina.
»So lautete Nasuadas Befehl.«
»Nasuada? Ich dachte...«
»Da musst du sie schon selbst fragen. Sag deinem Mann, er soll möglichst nicht auf dem Rücken liegen. Und er soll ruckartige Bewegungen vermeiden, sonst könnte der Wundschorf aufreißen.«
»Danke«, murmelte Roran.
Hinter ihm lachte Angela. »Nicht der Rede wert, Roran. Oder doch, es ist der Rede wert, aber miss der Sache nicht zu viel Bedeutung bei. Ferner finde ich es lustig, sowohl deinen als auch Eragons Rücken behandelt zu haben. So, ich bin weg. Hüte dich vor Frettchen!«
Als die Kräuterhexe gegangen war, schloss Roran wieder die Augen. Katrinas sanfte Finger strichen ihm über die Stirn. »Du warst sehr tapfer, Liebster.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Jörmundur und die anderen, mit denen ich gesprochen habe, sagten, du hättest nicht ein einziges Mal geschrien und auch nicht um Gnade gefleht.«
»Gut.« Er hätte gerne gewusst, wie ernst die Verletzungen an seinem Rücken waren, aber er wollte Katrina nicht dazu zwingen, sie zu beschreiben.
Sie schien jedoch zu ahnen, was ihm auf dem Herzen lag, denn sie sagte: »Angela glaubt, dass du mit ein bisschen Glück keine allzu schlimmen Narben zurückbehalten wirst. Und selbst wenn, kann Eragon oder ein Magier die Narben entfernen, sobald alles verheilt ist. Dein Rücken wird aussehen, als hätte es die Peitschenhiebe nie gegeben.«
»Hm.«
»Möchtest du etwas trinken?«, fragte sie. »Ich habe Schafgarbentee aufgebrüht.«
»Ja, bitte.«
Als Katrina aufstand, hörte Roran, wie jemand ins Zelt trat. Er öffnete ein Auge und sah zu seiner Überraschung Nasuada neben dem Pfosten am Eingang stehen.
»Herrin«, sagte Katrina mit rasiermesserscharfer Stimme.
Trotz der brennenden Schmerzen am Rücken stemmte Roran sich halb auf und setzte sich mit Katrinas Hilfe auf die Bettkante. Auf die Schulter seiner Gemahlin gestützt, versuchte er aufzustehen, doch Nasuada hob abwehrend die Hand. »Bleib sitzen. Ich will dir nicht noch mehr Qualen bereiten, als ich es schon getan habe.«
»Warum seid Ihr gekommen, Nasuada?«, fragte Katrina. »Roran braucht Ruhe und sollte seine Kraft nicht für unnötige Gespräche vergeuden.«
Roran legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ist schon gut. Ich kann sprechen, wenn es sein muss.«
Nasuada trat ins Zelt, hob den Saum ihres grünen Kleides und setzte sich auf die kleine Truhe mit Habseligkeiten, die Katrina aus Carvahall mitgebracht hatte. Nachdem sie ihr Kleid glatt gestrichen hatte, sagte sie: »Ich habe eine neue Mission für dich, Roran: Es geht wieder um einen Überfall auf einen Versorgungskonvoi.«
»Wann breche ich auf?«, fragte er, verwirrt, dass sie sich die Mühe machte, ihm einen so simplen Auftrag persönlich zu erteilen.
»Morgen.«
Katrina riss die Augen auf. »Seid Ihr verrückt?«, rief sie.
»Katrina...«, murmelte Roran und versuchte, sie zu beschwichtigen, doch sie stieß seine Hand weg.
»Der letzte Einsatz, auf den Ihr ihn geschickt habt, hätte ihn beinahe umgebracht, und gerade eben habt Ihr ihn fast totprügeln lassen! Ihr könnt ihn nicht so bald wieder in den Kampf schicken. Er würde gegen Galbatorix’ Soldaten keine Minute bestehen!«
»Ich kann und ich werde«, sagte Nasuada mit solcher Autorität, dass Katrina sich auf die Zunge biss und Nasuadas Erklärung abwartete, auch wenn Roran merkte, dass ihre Wut längst nicht verflogen war. Nasuada fixierte ihn und fuhr fort: »Roran, wie du vielleicht weißt oder auch nicht, droht unser Bündnis mit den Urgals zu scheitern. Einer der unsrigen hat drei Kull umgebracht, während du unter Hauptmann Edric gekämpft hast, der übrigens, wie du bestimmt mit Freuden hören wirst, kein Hauptmann mehr ist. Nun, jedenfalls ließ ich den unseligen Kerl hängen, der die Urgals getötet hat. Trotzdem verschlechtern sich die Beziehungen zu Garzhvogs Gehörnten seit dem Zwischenfall zunehmend.«
»Was hat das mit Roran zu tun?«, wollte Katrina wissen.
Nasuada presste die Lippen zusammen. »Ich muss die Varden dazu bringen, die Urgals zu akzeptieren, ohne dafür noch mehr Blut zu vergießen. Am besten, indem ich meinen Leuten zeige, dass unsere beiden Völker friedlich zusammenarbeiten können, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Zu diesem Zweck wird der Trupp, dem du dich anschließen sollst, zu gleichen Teilen aus Menschen und Urgals bestehen.«
»Aber das erklärt noch immer nicht, warum...«, setzte Katrina an.
»Und ich unterstelle den Trupp deinem Kommando, Hammerfaust.«
»Mir?«, krächzte Roran erstaunt. »Warum?«
Nasuada lächelte verlegen. »Weil du alles, wirklich alles dafür tust, um deine Familie und deine Freunde zu schützen. In dieser Hinsicht bist du wie ich, auch wenn meine Familie größer ist als deine, denn ich zähle alle Varden dazu. Außerdem, weil du Eragons Cousin bist und ich es mir nicht leisten kann, dass du dich noch einmal einer Befehlsverweigerung schuldig machst. Dann müsste ich dich hinrichten lassen oder verstoßen, und beides erscheint mir wenig erstrebenswert.
Ich gebe dir also ein eigenes Kommando, damit niemand über dir steht, dessen Befehl du missachten kannst, außer mir. Und falls du mir den Gehorsam verweigerst, dann höchstens, um Galbatorix zu töten. Kein anderer Grund wird dich vor weitaus Schlimmerem bewahren als den Peitschenhieben, die du dir heute eingehandelt hast. Und ich gebe dir gerade dieses Kommando, weil du bewiesen hast, dass du andere überzeugen kannst, dir auch angesichts größter Gefahren zu folgen. Wenn jemand einen Trupp aus Menschen und Urgals anführen kann, dann du. Ich würde Eragon damit betrauen, wenn ich könnte, aber da er nicht hier ist, fällt dir diese Aufgabe zu. Wenn die Varden hören, dass Eragons Cousin - Roran Hammerfaust, der allein fast zweihundert Soldaten getötet hat - mit den Urgals auf eine Mission gegangen ist und diese erfolgreich war, dann bleiben die Kull vielleicht für die Dauer dieses Krieges unsere Verbündeten. Deshalb haben Angela und Trianna sich weit mehr um dich gekümmert als vorgesehen: Nicht um deine Strafe zu lindern, sondern weil ich dich in guter Verfassung brauche. Also, was sagst du, Hammerfaust? Kann ich auf dich zählen?«
Roran sah Katrina an. Er wusste, sie wünschte sich nichts mehr, als dass er Nasuada erklärte, er könne den Trupp nicht anführen. Mit gesenktem Blick, um ihren Schmerz nicht mitansehen zu müssen, dachte Roran an die gewaltige Armee, die den Varden gegenüberstand, und flüsterte heiser: »Ihr könnt auf mich zählen, Herrin.«

 

 

Die Weisheit des Feuers
titlepage.xhtml
jacket.xhtml
Die Weisheit des Feuers_split_000.html
Die Weisheit des Feuers_split_001.html
Die Weisheit des Feuers_split_002.html
Die Weisheit des Feuers_split_003.html
Die Weisheit des Feuers_split_004.html
Die Weisheit des Feuers_split_005.html
Die Weisheit des Feuers_split_006.html
Die Weisheit des Feuers_split_007.html
Die Weisheit des Feuers_split_008.html
Die Weisheit des Feuers_split_009.html
Die Weisheit des Feuers_split_010.html
Die Weisheit des Feuers_split_011.html
Die Weisheit des Feuers_split_012.html
Die Weisheit des Feuers_split_013.html
Die Weisheit des Feuers_split_014.html
Die Weisheit des Feuers_split_015.html
Die Weisheit des Feuers_split_016.html
Die Weisheit des Feuers_split_017.html
Die Weisheit des Feuers_split_018.html
Die Weisheit des Feuers_split_019.html
Die Weisheit des Feuers_split_020.html
Die Weisheit des Feuers_split_021.html
Die Weisheit des Feuers_split_022.html
Die Weisheit des Feuers_split_023.html
Die Weisheit des Feuers_split_024.html
Die Weisheit des Feuers_split_025.html
Die Weisheit des Feuers_split_026.html
Die Weisheit des Feuers_split_027.html
Die Weisheit des Feuers_split_028.html
Die Weisheit des Feuers_split_029.html
Die Weisheit des Feuers_split_030.html
Die Weisheit des Feuers_split_031.html
Die Weisheit des Feuers_split_032.html
Die Weisheit des Feuers_split_033.html
Die Weisheit des Feuers_split_034.html
Die Weisheit des Feuers_split_035.html
Die Weisheit des Feuers_split_036.html
Die Weisheit des Feuers_split_037.html
Die Weisheit des Feuers_split_038.html
Die Weisheit des Feuers_split_039.html
Die Weisheit des Feuers_split_040.html
Die Weisheit des Feuers_split_041.html
Die Weisheit des Feuers_split_042.html
Die Weisheit des Feuers_split_043.html
Die Weisheit des Feuers_split_044.html
Die Weisheit des Feuers_split_045.html
Die Weisheit des Feuers_split_046.html
Die Weisheit des Feuers_split_047.html
Die Weisheit des Feuers_split_048.html
Die Weisheit des Feuers_split_049.html
Die Weisheit des Feuers_split_050.html
Die Weisheit des Feuers_split_051.html
Die Weisheit des Feuers_split_052.html
Die Weisheit des Feuers_split_053.html
Die Weisheit des Feuers_split_054.html
Die Weisheit des Feuers_split_055.html
Die Weisheit des Feuers_split_056.html
Die Weisheit des Feuers_split_057.html
Die Weisheit des Feuers_split_058.html
Die Weisheit des Feuers_split_059.html
Die Weisheit des Feuers_split_060.html
Die Weisheit des Feuers_split_061.html
Die Weisheit des Feuers_split_062.html
Die Weisheit des Feuers_split_063.html
Die Weisheit des Feuers_split_064.html
Die Weisheit des Feuers_split_065.html
Die Weisheit des Feuers_split_066.html
Die Weisheit des Feuers_split_067.html
Die Weisheit des Feuers_split_068.html
Die Weisheit des Feuers_split_069.html
Die Weisheit des Feuers_split_070.html